Dr. Dr. Carol Stieber

Zur Eröffnung der Ausstellung "Schwingen" von Werner Brattig am 4. September 1997 im Seidler Parkhotel Solingen

Im Gegensatz zu den Kunstwissenschaftlern und Kunstkritikern hat der Amateur den Vorteil der Unbefangenheit. Er ist nicht mit technischem Wissen überlastet und nicht mit Vorurteilen, er ist auch nicht mit der Aura des Richters gesegnet. Kraft seiner Unqualifiziertheit kann er keine kunsthistorischen Analysen vornehmen, sich keine technischen Exkurse leisten und keine stilistischen Urteile fällen. Es werden keine Erwartungen an ihn gestellt, er genießt also in dieser Hinsicht eine fast totale Narrenfreiheit.

Der Narr vom Dienst steht aber heute vor einer beruhigenden Aufgabe: er soll etwas Genießbares über einen Künstler sagen, der sein Freund ist, was so etwas wie Voreingenommenheits-Geschmack haben könnte. Schlimmer noch: er hat bereits vor geraumer Zeit bei einer andere Vernissage gesprochen, wo Werner Brattig auch Vögel zeigte. Da ich nicht nur kein Kunstfachmann bin, sondern auch nicht Ornithologe, und dies auch nicht sein möchte, werde ich um Wiederholungen nicht herumkommen. Dafür bitte ich jetzt schon um Vergebung und hoffe, dass nicht zu viele der heutigen Teilnehmer auch damals dabei waren – ein Vorteil des Generationswechsels...

Wir befinden uns in der Endphase der Kasseler Dokumenta sowie der Biennale in Venedig. Dort wie hier ist eine Diskussion bisher unbekannter Breite und Intensität über die Zukunft der Kunst entstanden. Es werden da Stimmen laut, kulturpessimistische Stimmen, die - nach dem von Fukuyama laut verkündetem Ende der Geschichte, nach dem vielzitierten Ende der Utopien, nach Foucaults Ende der Metaphysik und dadurch Tod des Menschen, und, noch weiter zurück, nach dem von Nietzsche verkündeten Tod Gottes, augenblicklich vom Ende der Kunst sprechen. Dies ist genauso unwahrscheinlich wie die zitierten Prophezeihungen.

Doch das Sinnieren tut gut, es wirkt kathartisch. Kommt vielleicht im täglichen Leben wie in der Kunst das Ende des Hässlichkeitskultes, ein neues Bedürfnis und damit eine Rückkehr zur Schönheit mitunter auch ein Weiterbestehen des Hässlichen als Teil der Weltrealität oder der Weltillusion mit unbestreitbar ästhetischer Funktion? Ein Missverständnis scheint mir auf jeden Fall ausgedient zu haben: In dem Streben nach Kunst für alle ist eine Diskrepanz entstanden zwischen dem Versuch, die Kunst zu demokratisieren auf der einen Seite und der resultierenden Verschließung der Kunst in sich selbst auf der anderen.

In dem bereits von Dada und Surrealismus verkündeten und in der Nachkriegszeit weitergeführten Kampf vieler Kunsttheoretiker gegen den angeblichen Elitarismus und gegen eine Elfenbein-Mentalität der Kunst, ist das Gegenteil dessen eingetreten, das man sich zu erreichen zutraute. Vom Kunstbetrachter wurde fortlaufend eine oftmals erfolglose Anstrengung gefordert, um im Dickicht der Materialien, Techniken und Konzepte den Kern dessen zu entdecken, was zur Erfüllung von emotionalen und geistigen Kunstbedürfnissen zwangsläufig führt, wenn der Begriff Kunst einen Sinn haben soll.

Die Politisierung der Kunst, ihre Unterordnung verschiedenster ideologischer Opportunitäten, ihre Verfügbarkeit für eine Sache und demzufolge die Formulierung von Programmen wie auch von Verboten sowie das Anlegen politischer Fesseln - siehe zum Beispiel die Idee, dass Kunstwerke an Tatsachen zu orientieren und direkte Einfluss auf gesellschaftliche Vorgänge zu nehmen haben - hat in diesem Jahrhundert zu den sonderbarsten Ergebnissen geführt. Deren eine, tendenziell schon seit langer Zeit, doch erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten verstärkt zu beobachten, war die Notwendigkeit, das Kunstwerk mit einem Kommentargerüst zu begleiten, - zwecks Erleichterung der Interpretation und Begrenzung des Interpretationsspielraums, mit der Folge, dass das Werk selbst dahinter verblasst.
Noch etwas: Es ist jetzt eine Zeit der Schnelllebigkeit, in der im komplizierten und sich ständig verwandelnden Geflecht des menschlichen Daseins die Kunstströmungen einander wild hinterher jagen, ohne uns eine Pause zu lassen für Besinnung, Beschaulichkeit, Anhalten, Einatmen, ja Anpassen, sich an etwas gewöhnen zu können. Man stöhnt geradezu, nicht nur im rennen von einer Ausstellung zur nächsten, sondern von einer Tendenz zur anderen.