Schon vor nun fast 40 Jahren, da der in Solingen lebende Maler Werner Brattig in Paris Schüler bei André Lhote war, hatte ihn der Gedanke gefesselt, sich mit Strawinsky auseinander zu setzen. Was Wunder. In Strawinsky und besonders in seinem Ballett "Feuervogel" erreichen die Wechselwirkungen zwischen Musik und der heute klassisch genannten modernen Malerei bis heute nachwirkende Höhepunkte.
Nun musste nahezu ein Lebenswerk darüber vergehen, ehe Werner Brattig den großen Plan seiner Jugend der heute erreichten Reife anvertrauen durfte und mit einer großen Kollektion von ausladenden Acrylbildern und wie märchenhaften farbigen Grafik-Miniaturen dazwischen Strawinsky huldigt, dessen Ballett "Feuervogel" nachspürt und auch der Malerei seitdem. Und damit ist das Jahr 1910 als Ausgangspunk gemeint, in dem der große Erneuerer unserer Musik dieses Ballett uraufführte.
Werner Brattig hat den machtvollen Bilderzyklus nicht der zufälligen Eingebung oder der emotionalen Musikliebe überlassen, sondern intensiven Studien zu den 22 Sätzen der Ballettmusik und Choreographien von Diaghilew bis Béjart anvertraut, Studien auch des russischen Balletts und dessen Einfluss auf Picasso, Leger und Chagall. Dieser Forschungseifer reichte hin bis zu Parisreisen, Studien der Originalpartitur von Strawinsky, ehe Werner Brattig dann in Mai 1992 mit dem Zyklus begann, der im Mai 1993 zum 30jährigen Bestehen des Solinger Stadttheaters ausgestellt werden sollte und fortan auf Reise zu prominenten Ausstellungsstätten ist.
Seine formale Bewältigung des gewaltigen Themas vollzog sich in zwei Anläufen. Zunächst ließ er sich vom Original-Notenbild zu den Grafiken anregen, wobei er in der von ihm erfundenen Technik der Fendillage unter Einbezug von Reliefprägungen arbeitete und wie mit metallischem Federn der Strichsetzung einen unmittelbaren Bezug zu der Ballettmusik gewann, ehe er sich an die 22 Gemälde gab, die aus kühner Komposition und gewagter Farbkonstellation sprühende Bezüge zur Musik, aber auch zu der alten russischen Sage schaffen, die das Werk des großen Tonschöpfers erfüllt. Das Ergebnis sind schwirrende Geheimnisse zwischen krakelfüßigem Realismus und magischer Abstraktion.
Eine solch intensive gedankliche und formale Auseinandersetzung mit einem so komplexen Thema, wie leicht hätte es das Ergebnis vom Kopf her belasten und das rein Künstlerische hintertreiben können?
Dieser Gefahr ist Werner Brattig nicht erlegen, weil sein gesamtes bisheriges Lebenswerk wie ein Umkreisen des jetzt geglückten Gipfelpunktes war. Werner Brattig hat 1953 seine Studien an der Düsseldorfer Kunstakademie begonnen, an der sie 1958 unter Professor Ferdinand Macketanz abgeschlossen wurden. In jenen Jahren trat Werner Brattig, geboren 1932, zum ersten Mal mit einer Ausstellung in seiner Heimatstadt Solingen an die Öffentlichkeit: Kühle Abstraktionen aus stillebenhafter Gegenständlichkeit, die aus rätselhaft diffuser Lichtwirkung in schwebenden Grüntönen oder rötlichen Schleiern ins Unbestimmbare entrückt waren. Auf Anhieb erregte das Aufsehen. Aus einer Ohligser Hinterhofwerkstatt kamen dann Schabtechniken ans Licht, die in starkem Maße von Eindrücken dänischer Landschaften lebten und Gestalten wie bei Anderson-Märchen entstanden: Stachelig-krausköpfige Trollwesen, die auf hintergründige Weise Farbklavier in Molltönen spielten.
Das Atelier wurde größer, die Ausstellungen vergrößerten sich, die Techniken weiteten sich durch eigene Erfindungen aus. Das Bild schaffte Übergänge zum Plastischen, wobei das Nur-Schöne und zauberkünstlerisch Verfremdete oder Verschnörkelte ineinander übergingen und eine schier endlose Fülle des Zyklischen in grafischen Serien und Bilderfolgen begründeten. Lässt man derlei Vielfalt in Erinnerung an sich vorbeiziehen, erscheint es so, als hätte der „Feuervogel“ seit eh und je Pate gestanden, hätte also am Ende ganz einfach Auftauchen müssen.
Die formal eindeutigste Vorstufe für die Bilder zum Strawinsky-Ballett, die inzwischen (beispielsweise) im englischen Rochester, in Chalons an der Saône, in Saint Étienne, in Pforzheim, in Blankenhain/Sachsen, Freiberg/Sachsen, Castrop-Rauxel, Gouda/Holland, Köln, Grindsted und Aalborg (Dänemark), Neubrandenburg und Rostock zu sehen waren und noch an anderer Stelle zu sehen sein werden und damit längst noch nicht zur Ruhe gekommen sind, war ein großer, lustig-geheimnisvoller Zyklus von Monumentalmalereien zum Thema „Fest“. Werner Brattig hatte sie gemalt, um damit die Brüstung einer restaurierten Jugendstil-Festhalle zu zieren. Vergeblich. Nur eines dieser Bilder hat schließlich im Solinger Konzerthaus eine Bleibe gefunden, stimmt einen herbstlich goldenen Farbakkord an und zwingt skurrile Wesen zur Diagonalschräge, als sollten sie hölzerne Tanzschritte lernen oder "Pausenprost" rufen, da sich inzwischen die Sektbar darunter installiert hat...
Kurzum, wer das Wirken von Werner Brattig begleitet hat, wird seine Bilder zu Strawinskys "Feuervogel" als folgerichtiges Ergebnis eines in gleichem Maße von Leidenschaft wie von Zucht durchlebten Künstlerdasein empfinden. Wer nicht, den wird möglicherweise das Gelb, das Orange der stacheligen schnäbel- und krallenhaften Formerfindungen anspringen, wird erschreckt werden von den darinnen auftauchenden rätselvollen Gesichtern. Sollte das der Fall sein, wird angeraten, die Musik von Strawinsky zu hören oder den nach Brattigs Zyklus entstandenen Video-Film anzusehen.
Und er wird keine Fragen mehr haben.
Hans Karl Peschxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx